Interview mit Sören Birke // Gründung des Musicboards

Interviewer: Johannes Martin

Katja Lucker hat bis vor kurzem noch das Programm im Kesselhaus mitentwickelt.
Am 1. Januar 2013 ist sie in das Amt der Musikbeauftragten des Landes Berlin berufen worden. Sie und ihr Team wollen im Musicboard die Ziele der Pop-Kultur-Szene umzusetzen. So kann man es dieser Tage in den Zeitungen und Online-Portalen lesen. Bist du stolz, Teil dieses Prozesses zu sein und an der Entstehung mitgewirkt zu haben?

Sören Birke

Ganz sicher schwingt da Stolz mit, schließlich ist die Entstehung des Musicboards ein gutes Beispiel dafür, dass man in Berlin etwas erreichen kann, wenn man sich engagiert. In langen Arbeitsprozessen über mehrere Jahre hinweg ist das Musicboard durch viel Engagement vieler Berliner Musikenthusiasten entstanden, quasi aus den Clubs heraus mit Hilfe des Berliner Senates geboren worden.
Was kannst du mir von der Entstehungsgeschichte des Musicboards berichten? Um den Entstehungsprozess plausibel zu machen, muss man etwas ausholen. Nach dem Ende des „Kalten Krieges“ und der deutschen Teilung sind die Brachen Berlins in den 90iger Jahren nicht reglementiert erobert worden. In einem wild wuchernden kreativen Schub explodierte popkulturelles Leben in Berlin neu, das sich seit den 70iger Jahren sowohl im Ost- wie auch Westteil der Stadt aufgestaut hatte. Auf beiden Seiten waren es die jeweiligen Systemkritiker, die um andere Lebensalternativen rangen. Eine Generation von kreativen Akteuren fand urbane Freiräume vor - sowohl physisch-körperliche Freiräume, in denen tatsächlich Ruinenleerstände besetzt worden sind, als auch Freiräume im kulturellen und geistigen Leben dieser Stadt. Mit der entstehenden unüberschaubaren Club-Kultur siedelten sich alle anderen Akteure der Musikbranche in Berlin an. Dieser Prozess ist bis heute nicht zum Stillstand gekommen und erneuert sich scheinbar wie von selbst immer wieder. In den 0-er Jahren entwickelten sich darüber hinaus wirtschaftlich ernstzunehmende Kreativbranchen. Erfolgreich wurden die Medien-, Film- und Modebranche – Leuchttürme kreativwirtschaftlichen Handelns – mittlerweile perspektivreiche Antworten auf eine sich spürbar ändernde Industriegesellschaft hin zu einer digitalen Informations- und Dienstleitungsgesellschaft. Das wirtschaftlich äußerst schwache Berlin wurde zum Labor neuer urbaner Lebensstile. Keine Sperrzeiten, preiswerte Mieten und die Angebote bis 16 Uhr frühstücken zu können haben die gewohnten Lebensrhythmen ordentlich durchgerüttelt. Die „24-Stunden-Stadt“ entstand. In diesem Kontext war es ein Gebot der Stunde, dass sich auch die Musikakteure vernetzten, über ihren jeweils eigenen Tellerrand hinaussahen und den Konkurrent als Kooperationspartner entdeckten. Der Druck der ebenfalls erstarkten Immobilienwirtschaft und die allgemeine Krise der Musikwirtschaft halfen dabei kräftig nach. Populäre Musik wurde als attraktives kulturelles und wirtschaftliches Gut entdeckt. Es lohnte sich dieses neue Gut als generationsübergreifendes kulturelles Leitmedium zu verstehen. Die Kombination aus historischem und offenem Stadtraum, aus traditioneller Kultur und Pop, aus Berlinern, Migranten und Gästen ist mittlerweile so attraktiv, dass die Welt hierher will. Berlin hat international und interkulturell geladen und bietet jeder Art von hybrider Biografie Entwicklungsperspektiven oder eben auch nur die schillernde Zwischenzeit bei der Suche nach sich Selbst. Musik hält das alles am Vibrieren.

Mit den Veränderungen Berlins hin zu einer Metropole, die nicht mehr arm sein will, verändern sich allerdings die Lebensbedingungen und damit auch die Freiräume so, dass viele Akteure auf einmal erkannt haben: „Hey, jetzt geht’s uns doch mehr oder weniger an den Kragen. Wir müssen was tun. Aufstehen gegen Clubsterben. Ringen um neue Produktions- und Verwertungsmechanismen in der digitalen Welt. Wir müssen uns nicht nur als Kreative verstehen, sondern auch als Bürger dieser Stadt und uns gesellschaftlich und politisch engagieren.“ So kam es im Jahr 2000 zur Gründung der Club Commission Berlin - CCB, 2002 zur Gründung der Label-Commision Berlin - LCB (Regionalgruppe des VUT), 2007 zur Gründung der Berlin Music Commission - BMC, 2009 zur Gründung von all2gethernow, in dem Jahr, in dem die Popkomm abgesagt wurde, 2012 kam es zur Gründung vom Dach Musik, ein Interessenverband der freien Musiker.

In einem gelungenen Schulterschluss der Netzwerkakteure BMC, CCB, LCB unter der strategischen Kampagne MUSIK 2020 BERLIN kam es dann in den letzten vier Jahren zu dem starken Engagement dieser Netzwerke für die populäre Musik in der Stadtpolitik in den Feldern Kultur, Wirtschaft und Stadtentwicklung. Innerhalb dieser Kampagne sind mehrere Aktionen gestartet worden. Ein erstes Ergebnis war die Berlin Music Week. Die vordringlichste Aktion war allerdings ein Positionspapier der Netzwerke im politischen Raum vorzustellen. Es wurden darin dezidiert die größten Probleme und die künftig notwendigen Maßnahmen für neue Rahmenbedingungen der gewachsenen Musikbranche beschrieben. Dieses Positionspapier ist von vierhundert Musikunternehmen unterschrieben worden. In der Vor-Wahlphase zur neuen Berliner Landesregierung 2011 konnte damit die Kampagne in die Öffentlichkeit getragen und Lobbyarbeit unter den stadtpolitischen Akteuren gemacht werden. Unsere Forderung nach einem eigenständigen Musicboard wurde dann nach der Wahl von der neuen SPD-CDU Landesregierung umgesetzt.
Wie funktioniert die Arbeit der Kampagne Musik 2020 und wie bringen sich die Netzwerke ein? Die Kampagne hatte einen Kampagnenrat, der sich aus Akteuren der drei oben genannten Netzwerke zusammensetzte. Die Arbeit dieser Gruppe zielte darauf ab, so viele starke Kooperationen wie möglich in der Stadt einzugehen – mit Akteuren der Musikbranche, der Politik, anderen Kreativbranchen, Senatsverwaltungen, der Industrie- und Handelskammer, anderer relevanter Verbände, Hochschulen und Universitäten, den Medien. Es ging darum, für die Belange populärer Kultur zu sensibilisieren und zu streiten.
Wozu braucht man aber so viele Kommissionen – stimmen die sich regelmäßig ab? Das ist natürlich für den Außenstehenden verwirrend. Klar wäre es übersichtlicher, wenn man eine geeinte Institution geschaffen hätte. Aber vielleicht geht das nicht. Die Zentralisierung ist nicht so einfach möglich, weil die Interessen der einzelnen Akteure so unterschiedlich sind. Die Interessen der Clubs sind ganz andere als die Interessen der Labels, der Live-Veranstalter, der Agenturen und besonders der Künstler. Es handelt sich um so ein heterogenes, kompliziertes Material, was es da zu bewegen gibt, dass vielleicht ein Zusammenspiel von Konstellationsakteuren derzeit sogar die bessere Variante ist. Die Hoffnung besteht auch, dass das Musicboard künftig diese einende Institution wird. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Die Konzeptionierung des Musicboards dauerte vier Jahre. Hat sich an den ursprünglichen Ideen etwas geändert? Wie wird man überhaupt der Komplexität in Musikbranche gerecht? Hat sich was geändert nachdem die Politik das Thema angenommen hat? Aktuell wurden drei Ziele für das Musicboard formuliert. Die richtigen?

In den Konzepten der Netzwerke für das Musicboard sind sechs wesentliche Aufgaben und Maßnahmefelder beschrieben:
  • Infrastruktur Stadtraum (Clubs sind Kulturräume, sollen erhalten und entwickelt werden)
  • Karriereförderung von Nachwuchs- und Re-startkünstlern in ihren Wertschöpfungskontexten
  • Professionalisierung der Branchenakteure
  • Nationales und internationales Standortmarketing
  • weitere Vernetzung der Branche, Entwicklung einer Branchenidentität
  • Forschung und Entwicklung – Evaluierung der jeweiligen Ist-Situation um den Erfolg der Maßnahmen zu sichten bzw. Defizite aufdecken

  • Außerdem wurde eine eigenständige Betreiberstruktur, in der die Akteure der Musikbranche und der Netzwerke gemeinsam mit dem Berliner Senat gestaltend und steuernd mitwirken können, konzipiert – ein Beteiligungsmodell. Das Ganze sollte mit einem jährlichen Budget von 10 Mio. Euro jährlich ausgestattet sein. Unter diesen optimalen Bedingungen würde man der Komplexität der notwendigen Aufgaben nahe kommen.
    Die Realität 2013 sieht etwas anders aus.
    Nach einem Anhörungsprozess der Senatskanzlei 2012 wurde eine Auswahl aus dem gesamten Maßnahmenkatalog vorgenommen und ein anderes Modell gestartet, mit folgenden Zielen

  • Popmusikerinnen und -musiker unterstützen
  • Die Berliner Musikinfrastruktur verbessern
  • Den Berliner Standort für Popmusik stärken

  • Dazu soll im Jahr 2013 eine gemeinnützige GmbH gegründet werden. Die gGmbH wird durch eine Geschäftsführung geleitet, die von dem hundertprozentigen Gesellschafter ‚Land Berlin‘ die Genehmigung für die Gelder bekommt, um die vorgenommen Aufgaben umzusetzen. Die Geschäftsführung wird bei der Arbeit von einem Beirat beraten. Das Jahresbudget ist 1 Mio. Euro. Der Fokus der Aufgaben liegt auf zwei Bereichen „Pop im Kiez“ und \"Karrieresprungbrett Berlin“. In einem \"Call for Concepts - Popmusik in Berlin\" - Verfahren können sich die Branchenakteure um die Fördermittel bewerben.


    Aus dem vorgeschlagenen Beteiligungsmodell ist jetzt ein vom Land Berlin gesteuertes Intendantenmodell mit weniger Aufgaben und weniger Budget geworden.
    Jetzt gibt es also die vereinfachte Variante des Musicboards. Ist damit alles getan? Was wird in naher Zukunft gebraucht? Haben die Netzwerke noch eine Aufgabe? Auch wenn das Board nicht ganz das geworden ist, was wir uns in der Konzeptionsentwicklung gewünscht haben, ist trotzdem ein erster wesentlicher Schritt getan, auf dem man aufbauen kann. Die Netzwerke haben dabei weiterhin eine wichtige Funktion in der Stadt. Sie sind das Radar für die Potentiale und Ideen. Sie sind die Mittler zwischen Branche, Künstlern, Politik, Verwaltung und Stadt. Deswegen werden auch die Netzwerke weiter agieren und als Partner für das Musicboard mitwirken.
    Schaut man sich die gesamte Situation für die künftige Entwicklung des Musikstandortes Berlin an, wurde da ein starkes Fundament in den letzten Jahren gebaut. Für die Musikbranche und MusikerInnen Berlins ist eine einzigartige Konstellation von Akteuren und Fördermöglichkeiten entstanden. Erst einmal zusammengenommen könnte das ein starkes Rückgrat für die Berliner Branche bilden! Das Musicboard, alle Netzwerke BMC/CC/A2N/LCB/Dach Musik, alle bisherigen Förderinstrumente des Senates und die Berlin Musik Week. Zählt man alle Fördermittel der verschiedensten Instrumente zusammen, stehen jährlich ca. 2,5 Mio € zur Förderung von populärer Musik zur Verfügung. Von 2013 bis 2020 wären das ca. 20 Mio Euro. Das verbraucht zwar ein Stadttheater in Berlin in einem Jahr ... aber immerhin nicht nichts. Ein Anfang!
    Es ist gelungen das Thema „ Pop“ in die Berliner Politik zu tragen. Es ist erkannt worden, dass dieser Motor für die künftige Entwicklung der Stadt eine bedeutende Rolle hat. Wünschenswert wäre es, wenn alle engagierten Akteure die vorhandenen strategischen Potentiale in einem Meilensteinplan 2014-2017-2020 zusammenfassen und vernetzt weiterarbeiten würden. Hier hat jetzt Berliner Politik auch eine neue klare Aufgabe -
    Mitzugestalten!

    Zur Nachhaltigkeit des Prozesses gehört auch eine mentale Resonanz bei den Berlinern, die nicht direkt mit der Branche zu tun haben. Erst wenn die Berliner „Pop“ sind, wird daraus mehr. Derzeit hunderte Orte und jährlich tausende Veranstaltungen sind ein hoffnungsvol-les Zeichen. Stell Dir vor, es gelingt ein neue Generation von Popakteuern zu aktivieren! Wo sind die neuen Trends? Berlin wird sich als moderner urbaner Raum weiterentwickeln und sich dabei stark verändern. Ganz sicher mit viel Musik.